Sonntag, 29. April 2018

Erich Ludendorff - In zentralen Punkten rehabilitiert durch die etablierte Geschichtsschreibung?

Erich Ludendorff und der totale Krieg - Gibt es Neubewertungen?
Ein Vortrag des britischen Historikers Alexander Watson an der britischen Offiziers-Akademie vor drei Jahren

Ich hatte schon in einem meiner neueren Videovorträge kurz darauf hingewiesen, daß es gegenüber bislang tabuisierten Themen wie "Rasse" oder "Erich Ludendorff", sprich gegenüber dem bisher tabuisierten völkischen Gedanken und seiner vornehmlichen Vertreter eine neue Argumentationsstrategie zu geben scheint. Der Humangenetiker David Reich behandelt das Thema "Rasse" neuerdings genauso wie der britische Historiker Alexander Watson (geb. 1979) (Wiki) schon im Mai 2015 die geschichtliche Bedeutung Erich Ludendorff behandelt hat. Nämlich einerseits wird rhetorisch und in Adjektiven so wie bisher auf dem völkischen Gedanken als das Schlimmste und Schrecklichste hingewiesen, während zugleich in der Sache derselbe in wesentlichen Punkten rehabilitiert wird.

Hier soll auf Alexander Watson hingewiesen werden. Dieser hat vor Offizieren der britischen Streitkräfte im Rahmen der "Joint Services Command and Staff College (JSCSC)" (Wiki) einen Vortrag gehalten, der eine völlige Neubewertung der geschichtlichen Bedeutung Erich Ludendorffs (1864-1937) (Wiki) enthält (1). Diese Neubewertung geht - im positiven Sinne - weit über das hinaus, was in der etablierten deutschen Historikerschaft gegenüber Erich Ludendorff seit 1945 an Sichtweisen hervorgebracht worden war. Er tat dies im Rahmen der dortigen "Forschungsgruppe Erster Weltkrieg". Dieser Vortrag ist - zumindest nach Datumangabe - schon seit 2015 auf Youtube zugänglich (1).




Alexander Watson sagt in diesem gut halbstündigen Vortrag einleitend (im folgenden alles eigene Transkription und Übersetzung) (1):
Erich Ludendorff ist keiner, der von den Historiker besonders liebevoll behandelt wird. Man erinnert sich nicht gern an ihn. Schon viele Zeitgenossen mochten ihn nicht, besonders in Österreich, wo man sich an ihn als an den "abscheulichen Preußen" erinnerte. (...) Er war Soldat, er war Militarist, er verkörperte die mörderischen Werte und Tugenden, die Nachteile und Probleme der preußischen militärischen Elite im frühen Zwanzigsten Jahrhundert. Und in mancher Hinsicht in übertriebener Weise. ... Und im weiteren Verlauf seines Lebens wurde er nicht nur ein Nationalist, ein Antisemit, ein Rassist, er war die meiste Zeit seines Lebens auch Sozialdarwinist, ein Mann, der glaubte, daß Krieg, Kampf zwischen Nationen unvermeidlich war. Er sah den Ersten Weltkrieg nicht als einen Krieg an wie wir ihn erinnern, nämlich einen "Krieg, um alle Kriege zu beenden", sondern mehr als einen Krieg, dessen Ergebnis in weitere Kriege münden würde, um Deutschland in eine Position zu bringen, so günstig wie nur immer möglich für alles, was die Zukunft bringen würde.
Natürlich sind diese Zeilen noch durchwirkt von hanebüchenen Fehlurteilen. Aber lassen wir sie erst einmal so im Raume stehen. Sie sind ja nichts Ungewöhnliches. Viel eher "alltäglich".

Man kann aber auch hinzufügen, daß hier deutlich wird, daß Watson sich mit Erich Ludendorff als Kritiker von Hintergrundpolitik, als Kritiker von überstaatlichen Mächten noch nicht besonders beschäftigt zu haben scheint, auch nicht mit den Motiven, die hinter dieser Hintergrundpolitikkritik stehen. Aber schon aus Buchtiteln Erich Ludendorffs wie "Kriegshetze und Völkermorden in den letzten 150 Jahren" (1928) oder "Weltkrieg droht auf Deutschem Boden" (1930) sollte doch deutlich werden, daß Erich Ludendorff gerade nicht wollte, daß menschliche Geschichte sich als eine Geschichte ununterbrochener Kriegshetze und ununterbrochenen Völkermordens vollzog. Schon seine Wehrvorlage aus dem Jahr 1912 hat Erich Ludendorff doch immer charakterisiert von ihm gedacht als ein Mittel zur Kriegsvermeidung. Aber wer wollte solche "unwesentlichen Details" gar so wichtig nehmen .... Es ist "nur" Ludendorff, der "Schlimme", der "Schrecklichste" der Schrecklichen.

Abb. 1: Der britische Historiker Alexander Watson, 2015

Watson sitzt hier also allzu klar noch Sichtweisen über "Militarismus" auf, die propagandistische Elemente enthalten. Denn sonderbarer Weise werden ja die westlichen Demokratien, die nicht erst seit 1945 die Welt mit einem Meer von Krieg überzogen haben, nicht als "militaristisch" gekennzeichnet. Solche Dinge sind zu lächerlich, um ihnen überhaupt noch weiter Beachtung zu schenken. Man wird einfach nur die Hoffnung aussprechen dürfen, daß irgendwann auch einmal diesbezüglich die Realität unter Fach- und Militärhistorikern - wie jenen rund um Alexander Watson - ankommen wird. Das neu erschienene Buch von Niall Ferguson "The Square and the Tower - Networks and Power, from the Freemasons to Facebook" läßt ja auch diesbezüglich manche Hoffnungen aufkeimen. Doch zurück zu Alexander Watson. Dieser ist in seinen weiteren Ausführungen 2015 schon so viel mehr in der historischen Realität angekommen, daß es sich wirklich lohnt, sie zur Kenntnis zu nehmen. Und deshalb macht es Sinn und ist es wertvoll, fast seinen gesamten Vortrag weitgehend vollständig zu übersetzen. Er sagt nämlich weiter:
Es ist viel über Erich Ludendorff geschrieben worden. Aber interessanterweise fokussiert man dabei meistens auf Ludendorff als einen politischen Soldaten, man schaut auf sein politisches Handeln, seine Kriegsziele, seine expansiven Kriegsziele während des Krieges und was er in Deutschland innenpolitisch tat, mehr als auf alles andere. Die beiden wichtigsten Bücher über Ludendorff, Martin Kitchen's "The Silent Dictatorship" (1976) und Manfred Nebelin's "Diktator im Ersten Weltkrieg" (2010) behandeln Ludendorff als einen politisch Handelnden, als einen Herrscher - wie die Titel sagen - als einen Diktator oder als den Leiter einer Diktatur. Und dies ist ein Umstand, dem gegenüber meiner Meinung nach wirklich eine Neubewertung ansteht.
Ludendorff ist - natürlich - ein Soldat. Und um Ludendorf zu verstehen, muß man seine militärische Identität in den Vordergrund stellen. ... 1913 Kriegsakademie ...  Militärische Probleme, militärische Prioritäten sind es, mit denen er vornehmlich beschäftigt ist. Ich möchte im folgenden darauf hinaus, daß diese militärischen Probleme und Prioritäten im Zentrum dessen standen, was er tat, um zu erklären, was er in Deutschland während des Ersten Weltkrieges tat. Im August 1916 stieg er zur Leitung des deutschen Heeres auf, direkt unter Paul von Hindenburg. Er hatte den Titel Generalquartiermeister. Und er war de facto der Leiter der deutschen Armee vom August 1916 bis zu Ende Oktober 1918. Darüber hinaus war die sogenannte dritte Oberste Heeresleitung politisch und diplomatisch sehr aktiv. 1916 griff Ludendorff in die Innenpolitik ein, um die moralischen Grundlagen der deutschen Kriegsanstrengungen zu verbessern - ich werde später noch genauer erläutern, was ich damit meine. Er griff in die Wirtschaft ein, legte das Hindenburg-Programm auf, ein massives Programm, um Deutschland in Sachen Bewaffnung und Rüstung wieder auf gleich zu bringen mit den Alliierten an der Westfront, mit der Material-Ausstattung, auf die die Alliierten in Frankreich und Flandern zurück greifen konnten. Und er griff ebenso kraftvoll in die Diplomatie ein, indem er die Kriegsziele formulierte, für die Deutschland tatsächlich kämpfte. Eine Reihe von Arbeiten, die sich anschauen, was Ludendorff militärisch tat, verwerfen ihn im allgemeinen.
Im weiteren bezieht sich Watson auf die US-amerikanische Professorin für Deutsche Geschichte Isabel Victoria Hull (geb. 1949) (Wiki, engl). Sie sieht - laut dem englischen Wikipedia - Deutschland immer noch als hauptverantwortlich für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges und sie wird dafür kritisiert, daß sie die Folgen der britischen Hungerblockade gegenüber Deutschland verharmlosen würde, die 400.000 zivile Todesfälle in Deutschland zur Folge hatte. Vermutlich bezieht sich Watson im folgenden vor allem auf ihr diesbezügliches Buch "Absolute Destruction - Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany" (2005) (Amazon). Watson:
Isabel Hull hat argumentiert, daß seine (Ludendorffs) Mentalität ihn dazu verleitete, auf Taktik zu fokussieren, zurückzuführen auf seine Ausbildung als ein preußischer Offizier, und was typisch sei unter preußischen Offizieren, und was letztlich Deutschland in die Katastrophe geführt hätte, das Fehlen seines Willens, die Komplexität moderner Politik zu verstehen, sich realistisch mit der Wahrscheinlichkeit eines Verhandlungsfriedens zu befassen. Sie argumentiert, daß die Mentalität innerhalb des preußischen Offizierskorps fokussiert sei auf die Schaffung und die Perfektion von Gewalt. Ich werde argumentieren, daß es Probleme mit dieser Argumentation gibt. Denn Ludendorff war mit Diplomatie befaßt und mit Innenpolitik. Ich glaube, daß wir ihn umfassender zu verstehen haben als das hier geschieht. Ebenso militärisch. Denn Ludendorff hat sich niemals wieder von seiner Niederlage im Jahr 1918 erholt, verwirrt darüber, daß der Angriff im Frühjahr 1918, der den Krieg beenden sollte, nicht gelang, was dann zur Niederlage Deutschlands an der Westfront führte.
Niederlage wird man in diesem Zusammenhang als zu starkes Wort charakterisieren können. "Im Felde unbesiegt," lautete ja damals die Parole in weiten Teilen des deutschen Volkes. Und auch Ludendorff selbst sah sich an der Westfront nicht per se als "besiegt" an. Er sah die Völker Englands und Frankreichs als ebenso kriegsmüde und erschöpft an wie das deutsche und meinte, daß durch hinhaltenden Widerstand noch ein hinlänglich angemessenerer Ausgleichs-Friede hätte geschlossen werden können als er dann tatsächlich geschlossen worden ist. Und deshalb war er ja vom Kaiser entlassen worden Ende Oktober 1918. Watson weiter (1):
Holger Herwig meint in seinem Buch "Erster Weltkrieg", daß Ludendorff niemals über das intellektuelle Niveau eines Regimentskommandeurs hinausgekommen sei, der Infanterietruppen befehligt. Er glaubt, daß es ihm ihm darum gegangen sei, die feindlichen Linien irgendwo zu durchbrechen, die alliierten Armeen zu zerschlagen und sie dann zur Übergabe zu zwingen. Ich möchte darauf hinaus aufzuzeigen, daß hier ein massives Unterschätzen vorliegt. Natürlich ist es sehr schwierig, Ludendorff zu verteidigen. Denn er war eine außerordentlich unangenehme Person. Wer also sagen will, daß man ihn neu bewerten und ernster nehmen muß, ist wirklich in einer ziemlich peinlichen Lage. Aber wenn man ihn erstens nicht von seiner militärischen Seite her betrachtet und wenn man zweitens nicht die Herausforderungen berücksichtigt, mit denen man es bei dieser neuen Art von Kriegführung damals während des Ersten Weltkrieges zu tun hatte, mit diesem "totalen Krieg", dem er gegenüber stand, wenn man nicht von diesen Dingen ausgeht, wird man sein Handeln unmöglich verstehen können. Wenn man diese Sichtweise aber einnimmt, wird er zu einem viel interessanteren, innovativeren militärischen Denker als ihm das bislang zugesprochen worden ist. 
Nun, das sind doch ungewöhnliche Worte, so möchte man meinen. Watson will in seinem halbstündigen Vortrag dann kurz auf folgende Themen Schlaglichter werfen: Wie entwickelten sich Ludendorffs Kriegsziele? Wo kommen sie her? Worum ging es Ludendorff innenpolitisch? Und was tat er verteidigungsmäßig 1918? Waton (1):
Er war ein "active combat soldier", ein Frontsoldat (also gemeint: kein bloßer Stabsoffizier), der als solcher an der Ostfront geformt worden ist. Die Ostfront ist zu wenig erforscht, was den Ersten Weltkrieg betrifft. Aber es ist zugleich die interessanteste Front des Ersten Weltkrieges. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen gab es viel mehr Bewegung, es geschah viel mehr. Der Krieg war dort - viel mehr als an der Westfront - so, wie das preußische Militär erwartet hatte, daß ein Krieg aussehen würde. Der zweite Punkt ist, daß die Zivilbevölkerung der heutigen baltischen Staaten, Polens und der Ukraine viel mehr in den Krieg mit einbezogen war. In diesem Sinne war der Krieg seit 1914 viel mehr ein totaler Krieg.
Hier ist der Begriff totaler Krieg nicht im Sinne benutzt wie ihn Erich Ludendorff verstand. Denn gehungert haben die Menschen in Deutschland, nicht in den besetzten Gebieten. Aber auch das wieder nur am Rande. Watson weiter (1):
Es gab eine Verwaltung, es gab große Flüchtlingsbewegungen und es gab ebenso eine ausnutzende Besatzung, in einem viel größeren Umfang als im Westen zwischen 1914 und 1918. Das, was die Menschen wissen über Erich Ludendorff, ist natürlich der Sieg, den er mit Paul von Hindenburg erfochten hat bei Tannenberg, die Zerschlagung russischer Armeen, die in Ostpreußen eingedrungen waren, der nordöstlichsten Provinz von Deutschland Ende August 1914. (...) Um zu verstehen, wo Ludendorff herkommt und was er wollte angesichts der militärischen Situation des Krieges, um seine Politik und Kriegsziele zu verstehen, muß man auf dieses Eindringen (der russischen Truppen) auf eine andere Weise schauen, nicht auf seinen Erfolg Ende August 1914, sondern auf die acht Monate, in denen Deutschland unter fortdauernder Gefahr stand, von Seiten der russischen Kräfte. Es gab nicht einfach nur ein Eindringen in Deutschland, das in Tannenberg endete. Tatsächlich gab es drei russische Einmärsche in Deutschland. Zuerst im August und September 1914, dann der zweite nach Tannenberg, als die Russen im November 1914 zurück kamen, was zu einer kurzen Besetzung von Teilen Deutschlands bis Februar 1915 führte und schließlich ein kurzes Eindringen im März 1915. Deshalb war während dieses ganzen ersten Teiles des Krieges die vornehmlichste Erfahrung des deutschen Volkes und insbesondere Ludendorffs, der an dieser Front kämpfte, das fortdauernde Gefühl der Gefahr, das von diesen russischen Armeen ausging.
Auch dies ungewöhnliche Worte. Dabei sind diese Ausführungen so einfach und so klar wie ein Kindergesicht, so simpel und so schlicht, wie Wahrheit immer nur sein kann. Man muß ihnen nichts hinzusetzen. Und man kann immer nur sagen: Was für eine Schande, was für eine riesen große Schande für die gesamte Zeitgeschichtsforschung, daß so simple Dinge erst im Jahr 2015 - und ausgerechnet von einem britischen Historiker - gesagt werden müssen, daß man bislang kaum bereit war, diese Dinge wahrzunehmen und zu bewerten. Es sei weiter Watson gefolgt (1):
Das wirkte sich auf Ludendorffs, bzw. auf die deutschen Kriegsziele in zweierlei Weise aus: Zunächst verstärkte es das Gefühl, das schon vor dem Krieg vorhanden war von einer tiefen, tiefen Verunsicherung. Bei den ersten Kriegszielen, die bezüglich des Ostens formuliert worden sind, handelte es sich um den sogenannten polnischen Grenzstreifen, ein Streifen, der einfach östlich von Polen (? - gemeint ist sicher: von Deutschland) entlang lief, dazu erdacht, Deutschlands Grenzen zu verbessern, so daß es viel mehr Schwierigkeiten geben würde für ein erneuertes Rußland, ein weiteres mal in Deutschland einzumarschieren.
So simpel und schlicht kann manchmal Wissenschaft sein, sogar Geschichtswissenschaft. Einfach und klar wie ein Kindergesicht. Einfach das feststellen, was während des Ersten Weltkrieges jeder Schuljunge und jedes Schulmädchen in wußte Deutschland. Und was auch jedes Schulmädchen und jeder Schuljunge in England oder Frankreich hätte wissen können - wenn denn eben dort nicht eine unglaublich verlogene Hetzpresse die Deutschen mit Haß und Verleumdung überschüttete in einer Art, daß diese Verhetzung bis heute nachwirkt, sowohl in Deutschland wie in weiten Teilen der Welt. Die Wahrheit führt dieses Kriterium mit sich, daß sie einfach ist, daß sie schlicht ist, daß sie geradezu unschuldig ist. Auf solche Kriterien jedenfalls stoßen wir hier.

Im "stählernen Ring" der Einkreisung, des Zwei-Frontenkrieges und der britischen Seeblockade


Watson in der gleichen Weise weiter (1):
Große Kriegsziele von der Art, die Hitler nach 1941 hatte, vielmehr auch schon vor 1941, Ideen großer Annexionen waren tatsächlich nicht Teil von Ludendorffs Plänen oder Wünschen in der ersten Phase des Krieges. Aus dem Frühjahr 1915 haben wir von ihm geschriebene Briefe, in denen er sich beklagte über die übertriebenen Forderungen, die die "Annektionisten" in der Heimat aufstellten, und in denen er sich selbst nur für untergeordnete Grenzkorrekturen aussprach. In anderen Worten: Was er wollte, waren einfach besser zu verteidigende Grenzen entlang von Flußlinien. Zu dieser Zeit sind seine Gedanken über Krieg recht altmodisch. Wofür er sich interessierte, das waren Feldzüge zu Lande, Verteidigungsfähigkeit des Landes. Im Oktober 1915, sechs Monate später, hat sich das geändert und er beginnt, über viel größere Annektionen nachzudenken, insbesondere hinsichtlich von Litauen und das heutige Lettland, das damals Kurland genannt wurde, im wesentlichen die heutigen baltischen Staaten. Und es gibt zwei Gründe für diese Änderung. Und ich glaube, daß 1915 entscheidend ist für Ludendorff darin, die totale Natur der modernen Kriegsführung zu verstehen.
Eine Nebenbemerkung sei schon hier gestattet: Was bei allen Ausführungen von Watson auffällt, ist, daß der Begriff totaler Krieg gar nicht mehr als ein abscheulicher Begriff verwendet wird im (geschichts-)wissenschaftlichen Diskurs, sondern im wesentlichen als ein Begriff, der einfach vorhandene Sachverhalte beschreibt. Er wird also so verwendet und verstanden wie ihn Erich Ludendorff auch immer verwendet und verstanden hat. Nämlich nicht als eine Forderung, Krieg solle so oder so sein, sondern aus der Beschreibung des Sachverhalts, daß moderne Kriege so oder so sind, nämlich so, daß sie als totale beschrieben werden können, und daß aus dem Erkennen dieses Sachverhalts dann Schlußfolgerungen zu ziehen sind. Das falsche Verständnis ging von der Goebbels-Rede aus, in der er so bombastisch fragte "Wollt ihr den totalen Krieg?" zu einer Zeit, als der Krieg schon lange total geworden war und als es gar keine Frage mehr war, ob man es so haben wolle oder nicht. Zumal diese Frage in Zeiten von Konzentrationslager und Todesstrafe sowieso nur eine rein rhetorische war, eine moralisch also unglaublich flache. Aber das wiederum nur nebenbei.

Daß nun diese neuartige Verwendung des Begriffs totaler Krieg durch Alexander Watson aus einer breiteren, länderübergreifenden Denkbewegung unter politischen und strategischen Planern im Hintergrund ganz allgemein hervor gegangen ist, bzw. von solchen Ermutigung erfahren haben könnte, dafür werden weiter unten noch Anzeichen geben. Auf diesen Umstand sei aber schon an dieser Stelle hingewiesen. Watson weiter (1):
Zunächst, das ist einfach opportunistisch, im Sommer 1915 haben die Deutschen und Österreich-Ungarn die Russen bei Gorlitz und Tarnow geschlagen und haben die Russen aus dem vertrieben, was damals als Russisch-Polen galt. Es gab also einen riesigen Vormarsch Richtung Osten. Und deshalb war die Versuchung, das Land, das man besetzt hatte zu annektieren, nahe liegend. Zum zweiten aber zeigen Ludendorffs Briefe ernste Sorgen über das, was in der Heimat vor sich ging, insbesondere rund um die Nahrungsmittelversorgung. Deutschland hat als Folge der militärischen Maßnahmen und der Umnutzung des Transportsystems unter Nahrungsmittelknappheit gelitten seit August 1914. Das brachte Probleme der Nahrungsmittelversorgung der Städte mit sich infolge der massiven Mobilisation von Truppen, die die Eisenbahnwaggons nutzten.
Und im Verlauf des Herbst 1914 und 1915 wurde die britische Seeblockade zu einem wesentlichen Faktor. Die Briten stoppten die Lieferung von Kriegsmaterial nach Deutschland. Aber im November 1914 erklärten sie sogar die gesamte Nordsee zum Kriegsgebiet. Und sie stoppten auch andere Lieferungen, insbesondere Nahrungsmittellieferungen nach Deutschland. Und das führte zu schrecklicher Not während des Krieges. Es gibt viel Streit um die Zahlen. Aber wahrscheinlich starben in Deutschland fast eine halbe Million Menschen an Unterversorgung - zu großen Teilen aufgrund der Seeblockade. Es gab noch andere Gründe, aber die Seeblockade ist dafür sehr wichtig. Und Ludendorffs Briefe während des Frühjahrs und Sommers 1915 sind schlicht und einfach mit der Situation der Nahrungsmittelversorgung an der Heimatfront beschäftigt. Er schreibt an den Verantwortlichen der Heimatarmee, daß seine Männer Kartoffeln anbauen, um sie mit nach Deutschland zu bringen. Und der Grund, weshalb er zu dem Schluß kommt, daß Litauen und Kurland annektiert werden sollten, ist, daß sie eine Möglichkeit der landwirtschaftlichen Versorgung für Deutschland bieten. Es sollten dies landwirtschaftliche Provinzen werden, die Deutschland autark machen würden gegenüber der Seeblockade.

Er erhielt die Möglichkeit, mit wirtschaftlicher Kriegsführung zu experimentieren in diesem (auf der Karte gezeigten) dunkleren Gebiet, genannt Oberost. Das war der Name für das deutsche Oberkommando im Osten und Ludendorff war der Chef des Stabes. Und er beherrschte im wesentlichen dieses Gebiet, im dem sich heute die baltischen Staaten befinden, als seinen eigenen persönlichen militärischen Machtbereich. [16'10] Und während seiner Amtszeit gibt es eine große Ausnutzung von Ressourcen. Die grundlegende Regel, nach der das Militär, bzw. Ludendorff dieses Gebiet regierten, sagt 1916, daß das Interesse Deutschlands und der deutschen Armee nur untergeordnete Bedeutung ... (?) /unklar/. Es gibt da einige Entwicklung, Aufbau von Infrastruktur, denn die Armee benötigte Infrastruktur an der Ostfront. Deshalb wurden Straßen, Bahnen, Brücken über das gesamte Gebiet hinweg gebaut. Aber viel mehr wurde aus dem Land heraus geholt. Güter etwa im Wert von 77 Millionen Mark wurden in die Provinz investiert, in das besetzte Gebiet und Güter im Wert von etwa 338 Million Mark wurden der Provinz entnommen während der Kriegszeit.
Pferde, Rinder, Schweine und vor allem auch Holz. Litauen und Lettland haben große Wälder. Aber es ist nicht nur Oberost, das zu den deutschen Kriegsanstrengungen beiträgt. Und das ist ein entscheidender Punkt und eine Änderung in Ludendorffs Verständnis darüber, worum es in diesem Krieg geht. Ausgehend von seinem eingeschränkten Verständnis von Feldzügen und Grenzen, die verteidigt werden können, hin zur Erkenntnis: Das ist ein Wirtschaftskrieg, der sowohl das Militär wie auch die Bevölkerung in der Heimat betrifft. Und deshalb sind Ressourcen, materielle Ressourcen entscheidend. ... Die deutsche Kriegswirtschaft geht durch den Konflikt durch das Plündern dieser besetzten Gebiete. Die deutsche Armee besetzte Gebiete, in denen insgesamt 20 Millionen Menschen lebten, also etwa ein Drittel der Bevölkerung von Deutschland in jener Zeit. Und diese Ressourcen in Polen, Belgien, Nordfrankreich und in den heutigen baltischen Staaten erfahren massive wirtschaftliche Ausbeutung.
Und das ist es, was bei Ludendorff eine Änderung bewirkt. Sein Erkennen, daß es bei Sicherheit nicht allein um Grenzen geht, die man verteidigen kann, sondern daß es tatsächlich darum geht, materielle Ressourcen und insbesondere landwirtschaftliche Ressourcen zu bekommen und zu behaupten. Darauf wurde er gestoßen durch die britische Blockade und die wachsende ... in der Heimat. Daher kommen seine Forderungen nach Annektionen. Und das zieht sich hin bis 1917 und erreicht seinen Höhepunkt im Frieden von Brest-Litowsk im März 1918, der Frieden, durch den Rußland für immer aus dem Krieg ausscheidet. Noch einige Zitate von Ludendorff aus dem September 1917: "Ich bin der Meinung, daß es zu wünschen wäre, daß wir einen Frieden bekommen, bevor der Winter einsetzt, solange er uns ... eine wirtschaftliche und militärische Position gibt, die es uns erlaubt, einem weiteren Verteidigungskrieg ohne Furcht entgegen zu sehen." Typisch und bemerkenswert in diesem Zitat ist zunächst, daß Ludendorff auf diesem Verteidigungskrieg besteht. Und das ist zurückzuführen auf diese Erfahrung des Vormarsches der Russen in Ostpreußen, in Deutschland im Jahr 1914.
Ich will auch noch sagen, warum das so traumatisch ist. Es gab Greueltaten gegen die Deutschen, 1.500 deutsche Zivilpersonen sind durch die russische Armee ermordet worden, 13.000 sind gewaltsam nach Rußland deportiert worden, von denen etwa ein Drittel während des Krieges in der Internierung ums Leben kamen. 900.000 Gebäude sind absichtlich zerstört worden durch die russische Armee als Racheakte, Bestrafungen oder während des Kampfes. Und der Einmarsch brachte eine massive Flüchtlingskrise mit sich. 800.000 Flüchtlinge waren in Ostpreußen unterwegs oder sogar weiter nach Westen ins Herz Deutschlands im August 1914. Und während des zweiten Einmarsches im November 1914 waren es noch einmal 350.000, die hoffnungslos in anderen Teilen Deutschlands Zuflucht suchten. Es waren dies große Krisen, die die Deutschen und Ludendorff sehr beeinflußten. Und Ludendorff war ja im Herbst 1914 direkt involviert in die Bemühungen, insbesondere Männer von der Ostgrenze hinweg zu evakuieren in sicherere Regionen Deutschlands. Das ist also die eine Angelegenheit: der Verteidigungskrieg. Wir müssen nicht seiner Meinung sein, aber es ist wichtig zu wissen, wie er es sah.
Und zum zweiten betont er eine wirtschaftliche und militärische Position. Grenzen, die verteidigt werden können, sind nicht mehr genug. Und das wird durch ein weiteres Zitat illustriert, er sagt weiter unten: "Getreide und Kartoffeln sind Macht - genauso wie Kohle und Eisen." Und das ist ebenso eine Folge der Wirtschaftsblockade.
Über alle diese Ausführungen hinweg gilt wieder und wieder, das ist alles so wahr und so einfach, daß es sich schlichtweg immer nur um "Erkenntnisse" handelt, die damals jedes Schulkind in Deutschland hatte, ja, an seinem eigenen Bauch spürte. Nur eine zutiefst verhetzte und ideologisch verdrehte Zeitgeschichtsforschung braucht Zeit bis 2015 und länger, um solche allzu simplen Erkenntnisse ebenfalls zu gewinnen. Watson über Ludendorff (1):
Daher sehen wir bei ihm, daß seine Forderungen nach Annektionen wachsen.
Watson vertritt die These (1):
Ludendorffs Interventionen in der Innenpolitik und hinsichtlich der Kriegsziele, sowie seine militärische Strategie können abgeleitet werden von seinem innovativen Engagement hinsichtlich des Themas "totaler Krieg".
Es sei an dieser Stelle zunächst einmal abgebrochen mit der Übersetzung des Video-Vortrages von Watson aus dem Jahr 2015. Diese Übersetzung ist (zumindest für den Autor dieser Zeilen) sehr Zeit-intensiv. Es wäre sehr erfreulich, wenn sich jemand aus der Leserschaft fände, der uns den Rest auch noch übersetzt.

Abb. 2: A. Watson - Ring of Steel, 2014
Natürlich macht dieser Vortrag neugierig auf das Buch von Alexander Watson, das - auch - diesem Vortrag zugrunde liegt. Es erschien 2014 unter dem Titel "Ring of Steel - Germany and Austria-Hungary at War, 1914-1918" und hat 800 Seiten. Schaut man in dieses Buch hinein, wird einem klar, daß der hier behandelte Video im Grunde schon in komprimierter Form den Inhalt dieses Buches selbst enthält. Das Buch dient in ausgesprochenem Maße den deutschen Interessen und es ist dringend erforderlich, daß es - endlich - ins Deutsche übersetzt wird. Im Grunde enthält es über weite Strecken nur genau jenes Wissen, das damals - wie schon mehrmals gesagt - jedes deutsche Schulkind hatte. Da man dieses Wissen aber an anderen Orten und in derart "seriöser" Form nicht findet, ist dieses Buch ungeheuer bedeutsam. Alexander Watson ist richtiggehend ein "Deutschland-Versteher" in diesem Buch.

Sein Titel ist ins Deutsche etwa zu übersetzen mit "Die Stählerne Einkreisung - Deutschland und Österreich-Ungarn im Krieg 1914 bis 1918". Er soll vermutlich auch erinnern an das damalige Sprichwort in Deutschland "Gold gab ich für Eisen", als die opferwilligen Deutschen ihren Goldschmuck, ja, ihre goldenen Eheringe hingaben und dafür Eisenringe erhielten, die sie mit Stolz trugen - damit Deutschland diesen unglaublich schweren Krieg um seine schiere Existenz durchhält.

Bundesverteidigungsministerium fordert Resilienz-Aufbau in der deutschen Bevölkerung 2017

Oben wurde schon danach gefragt, wo die Umbewertung des Begriffes "totaler Krieg" herstammen könnte. Das "linkskritische" Internetportal "German Foreign Policy - Informationen zur deutschen Außenpolitik" (von einem Horst Teubert [Wiki]) hat im Juni 2017 folgendes berichtet:
Berlin (Eigener Bericht - german-foreign-policy)
Die aktuelle deutsche Diskussion über die Widerstandsfähigkeit ("Resilienz") der einheimischen Bevölkerung gegen Angriffe feindlicher Kombattanten geht auf Überlegungen aus dem Ersten Weltkrieg und der NS-Zeit zurück. General Erich Ludendorff, der 1916 in die Oberste Heeresleitung der kaiserlichen Armee berufen wurde, äußerte 1935, die "seelische Geschlossenheit des deutschen Volkes" sei die Voraussetzung für den Sieg im kommenden "totalen Krieg". Laut Ludendorff geht es darum, Bevölkerung, Militärführung und Politik zu einer "gewaltigen Einheit" zu "verschweißen", die sich als "Schicksalsgemeinschaft" versteht und ihre gesamte Energie in den Dienst der Kriegsführung stellt. Um dies zu gewährleisten, forderte der General unter anderem die Einführung einer "allgemeinen Dienstpflicht" für Männer und Frauen sowie die Lancierung entsprechender Propagandakampagnen - "schon im Frieden".
Initiativen der amtierenden Bundesregierung weisen Parallelen dazu auf. In der "Konzeption Zivile Verteidigung" des deutschen Innenministeriums etwa ist die Rede von einer Verfassungsänderung, durch die Frauen zu Tätigkeiten in "verteidigungswichtigen Bereichen" gezwungen werden können. Mittels eines "gesellschaftlichen Diskurses" soll die Bevölkerung außerdem dazu gebracht werden, "Risiken zu tragen" und Schadensereignisse zu "erdulden". ....
Soweit die Einleitung zu einem Volltext, der gegen eine Gebühr von 7 Euro lesbar wäre. Aber die Stoßrichtung ist schon in diesen einleitenden Worten erkennbar. Tatsächlich fällt der Begriff "Resilienz" auf den 143 Seiten des diesbezüglichen frei zugänglichen "Weißbuches zur Sicherheitspolitik" des Jahres 2016 aus dem Bundesministerium für Verteidigung, das sich mit Vorworten von Angela Merkel und Ursula von der Leyen, schmückt, gleich 27 mal (8). Da heißt es zum Beispiel (8, S. 56):
Staat, Wirtschaft und Gesellschaft müssen ihre Widerstands- und Resilienzfähigkeit erhöhen, um Deutschlands Handlungsfreiheit zu erhalten und sich robust gegen Gefährdungen zur Wehr zu setzen.
Oder (8, S. 59):
Sicherheitsvorsorge ist nicht nur eine staatliche, sondern wird immer mehr zu einer gemeinsamen Aufgabe von Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft.
Es wird auch eine Definition des Begriffes Resilienz gegeben (8, S. 49):
Neben einem wirkungsvollen Beitrag zur Abschreckung strebt Resilienz auch den Ausbau der Widerstands- und Adaptionsfähigkeit von Staat und Gesellschaft gegenüber Störungen, etwa durch Umweltkatastrophen, schwerwiegende Systemfehler und gezielte Angriffe, an. Ziel ist es, Schadensereignisse absorbieren zu können, ohne daß die Funktionsfähigkeit von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig beeinträchtigt wird. Der Ausbau der Gesamtresilienz ist dabei das Produkt der fortschreitenden Resilienzbildung in den genannten Bereichen.
Was heißt denn hier "schwerwiegende Systemfehler"? Muß man bei einem solchen Begriff nicht an die satanistische, geheimgesellschaftlich organisierte Pädokriminalität denken, die laut der ARD-Fernsehdokumentation "Operation Zucker - Jagdgesellschaft" des Jahres 2016 die bundesdeutsche Führungsschicht so sehr durchzieht, daß eine wirksame Bekämpfung derselben nicht statt hat, ebenso wie dies von der elitären Pädokriminalität unter Margaret Thatcher vor wenigen Jahren bekannt geworden ist? Was sonst sollen "schwerwiegende Systemfehler" sein? Es wird auch der Begriff "Resilienzaufbau" erläutert (8, S. 60):
Die materielle Infrastruktur von Staat und Wirtschaft ist ebenso Angriffsziel wie die öffentliche Meinung, die vielfach Versuche externer Einflußnahme ausgesetzt ist. Nachhaltige Resilienzbildung in unserem offenen und demokratischen System ist daher eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Worauf das Weißbuch mit diesen Ausführungen nun eigentlich konkret hinaus will oder was die Hintergedanken bei diesen Ausführungen sind, müßte noch einmal gesondert überprüft werden (Krieg oder Cyber-Krieg mit Rußland). Jedenfalls werden hier Konzepte vom "totalen Krieg" und von seelischer Widerstandsfähigkeit neu überdacht, die insbesondere von Erich Ludendorff spätestens 1935 in die Debatte gebracht worden waren.

Erich Ludendorff forderte 1935 "Machet des Volkes Seele stark!"


Der britische Historiker Alexander Watson ist bislang in der deutschsprachigen Öffentlichkeit noch so gut wie gar nicht wahrgenommen worden, und zwar weder in der etablierten, noch in der alternativen Öffentlichkeit. Aber auf Youtube findet man inzwischen nicht nur den oben zitierten bemerkenswerten Vortrag von ihm aus dem Jahr 2015 (1), sondern auch ein ganz aktuelles Interview vom 18. März 2018 (4).

Oh, bevor ich zum Veröffentlichen des vorliegenden Aufsatzes komme, ist es schon wieder aus Youtube verschwunden - schade. Ich hatte vor einigen Wochen dazu notiert: Watson wird gefragt, worin sich die Kriegserfahrung der Bevölkerung der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn unterschied gegenüber der Kriegserfahrung der Bevölkerung Englands. Und Watson antwortete (4):
Ich glaube, der Hauptunterschied war vor allem eine viel stärkere Erfahrung des Gefühls von Bedrohung, eine viel, viel größere Erfahrung des Gefühls von Bedrohung. Denn man hat das Russische Reich an seiner östlichen Grenze, das gilt sowohl für das Deutsche Reich wie Österreich-Ungarn, das an Russisch-Polen und an die Ukraine grenzte. Und natürlich drangen in Deutschland im Jahr 1914 ebenfalls feindliche Truppen ein, ebenso in Österreich-Ungarn. Aus diesem Grund gab es ein viel stärkeres Gefühl für die große Hauptgefahr des Eindringens feindlicher Truppen, das man zur gleichen Zeit in Großbritannien gar nicht hat. Das ist das eine. Der andere große Unterschied sind die Entbehrungen, die Not des Krieges. Großbritannien führt Rationierung (von Lebensmitteln und Gebrauchsgütern) nicht vor dem Februar 1918 ein. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Deutschland und Österreich-Ungarn Rationierung schon seit vollen drei Jahren. Und die Menschen befanden sich in einem Gefühl der Verzweiflung hinsichtlich ihrer Ernährung. Dieses Leiden - ebenso wie das Eindringen feindlicher Truppen - gehört nicht zur britischen Erfahrung während des Ersten Weltkrieges.
Wie bei allen Feststellungen von Watson sind auch diese fast allzu simpel. Bei allen solchen Feststellungen fragt man sich immer: Warum wurde das nicht schon viel, viel früher so simpel und einfach gesehen und gesagt? Nun, dann wäre ja plötzlich klar, daß es sich beim Ersten Weltkrieg für die Deutschen gar nicht um einen "Griff nach der Weltmacht" handelte (Wiki), sondern um einen Verteidigungskrieg auf Leben und Tod, so wie es die zeitgenössischen Deutschen alle sahen.

In Betreff der Kriegsschuld meint Watson, daß Österreich-Ungarn am meisten Schuld tragen würde, Rußland am zweit meisten und erst an dritte Stelle stünde Deutschland. Nun, womöglich wird man diese "Schuldspielchen" auch als einigermaßen "old-fashioned" empfinden dürfen, wenn man einfach feststellt, daß es international agierende Eliten waren, die den Nationalismus benutzten, um die am Krieg völlig unschuldigen Völker in diesen Krieg hinein zu hetzen und zu ziehen.

Watson mag aber insofern recht haben, als die österreichisch-ungarische Regierung - insbesondere angefeuert und ermutigt durch den Vatikan - eine herausforderndere Haltung einnahm als sie es angesichts der Brisanz des damaligen Pulverfasses Europas hätte tun dürfen. Er hat insofern überhaupt nicht recht, als es das völlig legitime Recht Österreich-Ungarns war zu fordern, daß aus dem Mord an seinem Thronfolger die entsprechenden Konsequenzen in Serbien gezogen werden. Er hat hinwiederum insofern recht, als Rußland der serbischen Regierung viel zu viel Rückhalt gegeben hat. Und er mag auch insofern recht haben, als die starre, bedingungslose "Nibelungentreue" des deutschen Reichskanzlers Bethmann-Hollwegs gegenüber Österreich-Ungarn ebenfalls - so wie die russische Haltung - auf elitäre, sprich freimaurerische, jesuitische und östlich-esoterische - Hintergrundpolitik zurück geführt werden mag als daß sie im Interesse der Völker Europas und des deutschen Volkes lag.

Ein wenig auffallend lächerlich ist, daß Watson England und Frankreich als so viel weniger schuldig am Krieg erklärt als die anderen genannten Nationen. Das zeigt, wie lächerlich all solche "Schuld-Portionierungen" nach Nationen hinsichtlich des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges sind.

Immerhin gibt er auch er nicht mehr Deutschland die "Allein-" oder "Hauptkriegsschuld", was man ja doch schon einmal als einen wichtigeren Fortschritt wird bezeichnen dürfen. Es liegt das also so ungefähr auf der differenzierteren Linie seines Fachkollegen, des australischen Historikers Christopher Clark (geb. 1960) (Wiki).

Der Historiker Christopher Clark


Dabei repräsentiert Christopher Clark weiterhin eine Geschichtsschreibung, die den bekannten, geschichtegestaltenden Lobbygruppen und Hintergrundmächten keine besondere Rolle in der Geschichtegestaltung zuschreibt. Schon deshalb wird sich die britische Königin beeilt haben, ihn zum Ritter zu schlagen. In Zeiten, wo noch ganz andere Veröffentlichungen als die von Christopher Clark Aufmerksamkeit erhalten.

Um so weniger die Deutschen als jenes Volk im politischen und kulturellen Geschehen unserer Zeit wahrnehmbar und spürbar werden, als das sie tausend Jahre lang spürbar und wahrnehmbar waren, nämlich als ein Volk kämpferischer kultureller, religiöser, politischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Selbstbehauptung, Selbständigkeit und Freiheit, um so "normaler" und "entspannter" wird in Teilen der Geschichteswissenschaft die Sichtweise auf die deutsche Geschichte. Damit wird erkennbar, daß mit Geschichte und Geschichtswissenschaft seit hundert Jahren "Politik" gegen das Deutsche Volk und seine Selbstbehauptung betrieben wurde und betrieben wird ("Geschichtspolitik"). Diese Politik kann aber immer dann sofort abgebaut werden und in dem Maße, in dem das deutsche Volk sich nicht mehr für seine eigene Selbstbehauptung, Selbständigkeit und Freiheit interessiert.
_________________________________________________________
  1. Watson, Alexander: Erich Ludendorff in "Total War", 1914-1918 - A Reassessment. Speaking to the First World War Research Group at the Joint Services Command and Staff College, Shrivenham, 19 May 2015, https://youtu.be/iFe9orAVMXw
  2. Watson, Alexander: Enduring the Great War. Combat, Morale and Collapse in the German and British Armies, 1914–1918 (= Cambridge Military History Series). Cambridge University Press, Cambridge 2008
  3. Watson, Alexander: Ring of Steel. Germany and Austria-Hungary at War, 1914-1918. Penguin Books, London 2014 (Amazon)
  4. Watson, Alexander: The German view on the First World War. History Extra Podcast, 18.1.2018, https://www.youtube.com/watch?v=IqzWbtvKpAs (leider inzwischen wieder aus dem Internet genommen worden!)
  5. Kellerhoff, Sven Felix: Streiks deutscher Truppen erzwangen 1918 das Ende. In: Die Welt, 24. März 2014, http://la-loupe.over-blog.net/2014/03/streiks-deutscher-truppen-erzwangen-1918-das-ende.html
  6. Scianna, Bastian Matteo: Tagungsbericht: German Atrocities 1914 - Revisited, 27.10.2017 Potsdam, in: H-Soz-Kult, 24.11.2017, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7409>.
  7. Kellerhoff, Sven Felix: Gab es „Franktireure“ in Belgien 1914? In: Die Welt, 19.12.2017, https://www.welt.de/geschichte/article171725774/Historikerstreit-Die-Belgier-nicht-ein-Haar-besser-als-die-Kosaken.html
  8. https://m.bundesregierung.de/Content/Infomaterial/BMVg/Weissbuch_zur_Sicherheitspolitik_2016.pdf;jsessionid=798FB8BBB148AC7DB51AA14BD0395E2F.s4t1?__blob=publicationFile&v=2 
  9. https://giskoesgedanken.wordpress.com/2017/06/29/ludendorff-und-die-gegenwart/ 
  10. https://archive.org/details/Ludendorff-Erich-Der-totale-Krieg, https://archive.org/details/LudendorffErichDerTotaleKrieg1935130S.ScanFraktur 
  11. Teubert, Horst: Bürgerbeteiligung (II). Auf: German Foreign Policy (Aachen), 29.6.2017. Auf: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59628, auch: http://www.pflaster-info-agentur.de/index.php?p=news&area=1&newsid=48392
  12. Watson, Peter: Der deutsche Genius. Eine Geistes- und Kulturgeschichte von Bach bis ... 
  13. Clark, Christopher: Iron Kingdom. The Rise and Downfall of Prussia 1600-1947. Allen Lane, London u. a. 2006 (Deutsch: "Preußen - Aufstieg und Niedergang" 2007)
  14. Clark, Christopher: The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914. Allen Lane, London u. a. 2012 (Deutsch: "Die Schlafwandler" 2013)
  15. Bading, Ingo: Eine "Verleumdungsschrift" gegen Erich Ludendorff "von noch nie da gewesener Wildheit"? Neuerscheinungen zu Erich Ludendorff. Studium generale, 23. März 2017, http://studiengruppe.blogspot.de/2014/01/neuerscheinung-uber-erich-ludendorff.html

Keine Kommentare:

Beliebte Posts