Freitag, 1. Januar 2016

Erich Ludendorff auf Schloss Neubeuern in Oberbayern - Ein Aufenthalt von "ungeheurer Bedeutung"

"Nach schweren Tagen fand ich hier Frieden" - Erich Ludendorff, April 1920

Vom 13. bis 17. März 1920 fand in Berlin der Kapp-Putsch statt. Erich Ludendorff war an diesem führend beteiligt gewesen. Der Putsch misslang. In seinen Lebenserinnerungen schreibt Erich Ludendorff über die Tage danach (1, S. 123-125):
Wie ich erwartet hatte, nahm der Hass gegen mich in Berlin nach dem Misslingen des Kapp-Unternehmens täglich zu. Ich wurde als der Verantwortliche hingestellt. Mir war in Berlin jede Betätigungsmöglichkeit irgendwelcher Art genommen. So ging ich denn Ende März nach München.
Man darf vermuten, dass er dort zunächst seine Schwester Gertrud Jahn besuchte, der er sehr nahe stand und nicht zuletzt um derentwillen er wenig später entschied, ganz nach München zu ziehen. Zunächst aber berichtet er weiter (1, S. 123-125):
(Ich) wurde dann durch Vermittlung von Forstrat Escherich auf oberbayerischen Landsitzen gastlich aufgenommen. Ich kannte Forstrat Escherich aus der Zeit, in der ich der Verwaltung des besetzten Gebietes im Bereich des Oberbefehlshabers Ost im Jahre 1915/16 vorstand. Ich hatte ihm die Verwaltung des gewaltigen, ehemalig kaiserlich-russischen Waldgebietes von Bjebowies übergeben. (...) Ich lebte sehr zurückgezogen. (...) In einem meiner Gastgeber, dem aus Hannover stammenden sächsischen Oberstleutnant v. Halkett, lernte ich einen vollendeten Edelmann kennen, der mit fanatischer Anhänglichkeit sich an sein welfisches Königshaus (...) gebunden fühlte. (...) Anfang Mai war ich wieder in Berlin. Der Aufenthalt in Bayern sollte aber für mich von ungeheurer Bedeutung sein, da mir der Gedanke kam, ich könne ja auch dauernd nach München ziehen, wo meine einzige noch lebende Schwester verheiratet war.
Von dem erwähnten Oberstleutnant von Halkett findet sich im Internet gegenwärtig nichts. Aber aus jener Zeit scheint ein undatierter Gästebucheintrag von Erich Ludendorff auf Schloss Neubeuern in Oberbayern zu stammen (2). Er lautet:
Nach schweren Tagen fand ich hier Frieden.
Das danke ich dem Schloss und seiner Herrin.
Ludendorff.
Abb. 1: Schloss Neubeuern, Oberbayern (Fotograf: Aisano, Free Art License 1.3)
Ludendorffs Gastgeberin, die Baronin Julie von Degenfeld-Schonburg

Bei der von Erich Ludendorff erwähnten Herrin des Schlosses Neubeuern handelte es sich um die Baronin Julie von Degenfeld-Schonburg (1871-1942). Diese war in ihrer Jugend eine Hofdame der Königin von Württemberg gewesen (3). Sie hatte 1895 den Baron Jan von Wendelstadt (-1909) geheiratet, der als guter Freund des Grafen Eulenburg höchsten Regierungskreisen in Deutschland nahe stand. Und dieser hatte das Schloss Neubeuern in Oberbayern kurz vor der Hochzeit erworben.

Abb. 2: Gästebucheintrag von Erich Ludendorff auf Schloss Neubeuern (pdf)
Das Schloss liegt 10 Kilometer südlich der Stadt Rosenheim oberhalb des Inntales und ist heute von der Autobahn A8 von München kommend Richtung Salzburg 20 Kilometer vor dem Chiemsee rechterhand zu erblicken. Zwar blieb die Ehe der Baronin Julie kinderlos, doch führte sie und ihre Schwägerin den von ihrem Ehemann und dessen Schwager begründeten Künstlerkreis auf Schloss Neubeuern nach seinem frühen Tod fort. Darüber wird berichtet (3):
Seit 1891 zählte Jan von Wendelstadt zu den ersten Kreisen des bayerischen Adels. (...) Zu seinem Freundeskreis gehörte Philipp Graf zu Eulenburg, der seit 1891 als preußischer Gesandter in München residierte. Graf Eulenburg, der über hervorragende Kontakte zur kaiserlichen Administration in Berlin verfügte, wird in diesem Sinne zusätzlich noch die Ambitionen von Jan von Wendelstadt verstärkt haben. In diesem Kreis hat Jan von Wendelstadt seine spätere Frau, Julie von Degenfeld-Schonburg, kennengelernt. (...)
Jan von Wendelstadt hatte schon seit Beginn der 1880er Jahre einen Künstlerkreis um sich versammelt, der sich in erster Linie aus Mitgliedern der Familie seiner Frau zusammensetzte. Zentrale Figur des Künstlerkreises war Eberhard von Bodenhausen-Degener (1868-1918). Der Jurist und Diplomat war seit 1895 einer der geistigen Väter der Kunstzeitschrift "Pan", die bis 1900 die künstlerischen Tendenzen der Zeit aufnahm und formulierte. Bodenhausen, der schon seit Beginn der 1890er Jahre mit Jan von Wendelstadt befreundet war, lernte bei einem Besuch auf Schloss Neubeuern seine spätere Frau Dora, die Schwester von Julie von Wendelstadt, kennen.
Wie schon erwähnt, führte die Baronin Julie nach dem Tod ihres Ehemannes im Jahr 1909 den Künstlerkreis zusammen mit ihrer Schwester fort (Wiki):
Sie bildete um sich einen Freundeskreis aus künstlerisch-schöpferischen Menschen, zu dem unter anderen Schriftsteller und Dichter wie Hugo von Hofmannsthal, Annette Kolb, Rudolf Alexander Schröder, Rudolf Borchardt, Henry van de Velde, Harry Graf Kessler, Eugen Roth, Carl Burckhardt, Henry von Heiseler, der Musiker und Komponist Max von Schillings und der Kunsthistoriker und Krupp-Direktor Eberhard von Bodenhausen gehörten. Dazu kamen bekannte süddeutsche Maler wie Carl Arnold, Bruno Paul, Leo Putz, Paul Hoecker, Arnold Böcklin, Alfred Haushofer, Franz von Lenbach, Walter Püttner, Ludwig von Hofmann, Hans Rossmann, Josef Sattler und Franz von Stuck. Ein Teil dieser Personen traf sich bis zum Ersten Weltkrieg alljährlich zu einer „Neubeurer Woche“. Danach wurde das Schloss als Lazarett genutzt. 
Die Gästebücher des Schlosses Neubeuern können dementsprechend noch heute viel kulturgeschichtliches Interesse auf sich ziehen. 1916 übrigens heiratete die verwitwete Julie von Degenfeld-Schonburg den ebenfalls verwitweten Hans-Wolfgang Herwarth von Bittenfeld (1871-1942). Dieser war bis 1914 deutscher Militärattaché in den USA gewesen, langjähriger Mitarbeiter des Großen Generalstabes und 1916 bis 1918 Leiter der Militärstelle des Auswärtigen Amtes. Als solcher wird er auch Erich Ludendorff recht gut bekannt gewesen sein. In dem Umstand, dass die Ehe mit Herwarth aber 1923 wieder geschieden wurde, mag es begründet liegen, dass im Gästebucheintrag von Erich Ludendorff ein Schlossherr gar nicht erwähnt ist. Dieser Herwarth übrigens bearbeitete im Auftrag von Josef Goebbels noch 1940/41 die damals als wichtig angesehene Nostradamus-Auslands-Propaganda das Auswärtigen Amtes.

Warum wurde Ludendorff nach Schloss Neubeuern empfohlen?

Zu dem oben genannten Freundeskreis der Baronin Julie zählten, wie es scheint, größtenteils Personen mit weniger ausgeprägtem politischem und wenn dann eher liberalem Hintergrund. Deshalb wäre zu fragen, wie es dazu gekommen ist, dass die Baronin Julie - wohl auf Bitten des genannten Forstrates Georg Escherich (1870-1941) - Erich Ludendorff bei sich aufgenommen hat. Escherich hatte nach dem Ersten Weltkrieg die Leitung des Forstamtes Isen inne, das 60 Kilometer nördlich von Schloss Neubeuern liegt. Er war im August 1919 zum Leiter der damals in Bayern gegründeten Einwohnerwehren ernannt worden (Hist. Lex. Bayerns). Im März 1920 hatte er vergeblich versucht, sich in Bayern am Berliner Kapp-Putsch zu beteiligen. Deshalb versuchte der preußische Innenminister Carl Severing Anfang April 1920, seine Einwohnerwehren zu verbieten. Ebenfalls einstweilen vergeblich. Escherich hingegen versuchte, im März 1920 auf legalem Weg bayerischer Ministerpräsident zu werden. Dabei scheiterte er hinwiederum am Widerstand des späteren bayerischen Ministerpräsidenten Heinrich Held (Wik):
Georg Escherich wurde im August von der nach Bamberg geflohenen bayerischen Regierung (Kabinett Hoffmann I) mit der Zusammenfassung bereits entstandener örtlicher Einwohnerwehren beauftragt. Für diese „Einwohnerwehr Bayern“ stellte der Landtag Geld zur Verfügung, und ab Dezember 1919 fungierte Escherich als deren Landeshauptmann. Da er die Restauration der Monarchie befürwortete, war er zudem der neu gegründeten Bayerischen Volkspartei (BVP) beigetreten. Deren rechtem Flügel gelang es im März 1920, die Koalition mit der SPD aus dem Amt zu drängen. Escherich soll dann versucht haben, selbst bayerischer Ministerpräsident zu werden, was der linke BVP-Flügel unter Führung des Regensburger Journalisten Heinrich Held allerdings verhinderte.
Sicher bezeugt ist durch einen Gästebucheintrag, dass der Forstrat Escherich ein Jahr später, am 4. und 5. Mai 1921, auf Schloss Neubeuern weilte (pdf). In jenen Jahren weilten aber auf Schloss Neubeuern auch andere führende Vertreter rechtskonservativer, bayerischer Politik. So insbesondere vom 31. Oktober bis 5. November 1919, im Dezember 1919, vom 25. Dezember 1920 bis 2. Januar 1921 der General Otto von Lossow (1868-1938) (pdf), der Leiter der bayerischen Teile der Reichswehr. Hat womöglich auch er - aufgrund seiner auffallend langen Aufenthalte auf Schloss Neubeuern - Einfluss genommen darauf, dass Erich Ludendorff auf Vermittlung des Forstrates Escherich auf Schloss Neubeuern untergebracht wurde? Das wird einstweilen nicht geklärt werden können. Am 5. September 1920 weilten dann aber auch Gustav von Kahr, Ritter von Epp, Ernst Pöhner und Ernst Röhm - anlässlich eines "2. Chiemgauschiessens" - auf Schloss Neubeuern (s. pdf1 und pdf2).

Erich Ludendorff jedenfalls war im April 1920 auf den Gedanken gekommen, in Bayern wohnhaft zu werden. In seinen Lebenserinnerungen schreibt er über seinen neuen Wohnsitz in München, was er sicherlich auch über das Schloss Neubeuern hätte sagen können (1, S. 134):
Am 20. August bewohnte ich nun das von mir gemietete Landhaus auf der Ludwigshöhe bei München. Die stille und schöne Villenvorstadt Prinz-Ludwigs-Höhe (...) bot Gelegenheit zu schönen und weiten, einsamen Spaziergängen, die für mich Lebensbedürfnis waren und geblieben sind. (...) Von meinem Garten hatte ich Einblick in das scharf eingeschnittene Isartal. (...) Der Blick war reizvoll.
Aber erst in der Folgezeit, so schildert er, habe er - über Oberst Bauer und Kapitän Erhard - persönliche Verbindung zu dem bayerischen Ministerpräsidenten von Kahr und dem Münchner Polizeipräsidenten Pöhner erhalten (1, S. 137). Mit dem General von Lossow scheint er sogar erst nach dem 20. Oktober 1923 das erste mal zusammen getroffen zu sein (1, S. 248).

Jedenfalls: Eine so "ungeheure Bedeutung" sah er in der Entscheidung zu diesem Umzug nach Bayern aus dem Nachhinein, weil er in Bayern nicht nur in nähere Berührung kam mit der dortigen völkischen Bewegung, was zum Hitler-Putsch vom 9. November 1923 führte, sondern ab 1923 insbesondere auch mit seiner späteren zweiten Ehefrau Mathilde Ludendorff.
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Ergänzung zur Datierung des Gästebucheintrages. Dieser Gästebucheintrag war zu dem Zeitpunkt, als dieser Blogartikel am 1.1.2016 verfasst wurde, von dem Bearbeiter (Reinhard Kaesinger) noch - und zunächst ja auch nicht ganz unplausibel - auf den 8. November 1918 datiert worden. Auf diese aber wahrscheinlich falsche Datierung von uns angeschrieben (mit den unten aufgeführten Argumenten), reagierte er gleich und schrieb am 2.1.2016 per Email über die vorherigen und nachfolgenden Einträge dieses Gästebuches:
Der letzte Eintrag ist von 2/1919, dann kommen zwei Leerseiten, eine mit dem Ludendorff-Eintrag und dann geht es mit 1940 weiter. Die Zwischenzeit ist in einem anderen Buch.
Somit spricht auch diese Abfolge der Einträge nicht für einen Ludendorff-Eintrag im November 1918. Auch der Bearbeiter hält jetzt die hier von uns genannte Datierung für wahrscheinlicher. Man hätte ja auch Ludendorffs Worte von den "schweren Tagen" auf den Ersten Weltkrieg beziehen können. Dann wäre es aber nahe liegender gewesen, wenn er von "schweren Jahren" gesprochen hätte. Somit wird es am wahrscheinlichsten sein, dass Ludendorff bei diesen Worten an die vier Tage des Kapp-Unternehmens in Berlin gedacht hat.

- - - Blicken wir zur Überprüfung dieser Datierung noch einmal kurz in die Lebenserinnerungen Erich Ludendorffs für die Zeit Ende Oktober, Anfang November 1918 (1). Am 26. Oktober 1918 war er auf Schloss Bellevue in Berlin vom Kaiser entlassen worden. Danach fuhr er von Berlin noch einmal ins Große Hauptquartier nach Spa in Belgien (1, S. 22f):
Am 27. Oktober hatte ich mich in Spa von den Kameraden des Großen Hauptquartiers verabschiedet. (...) Am 28. früh war ich bereits wieder in Berlin und nahm Wohnung in einer Pension in der Keithstraße. Eine eigene Wohnung hatte ich nicht. (...) In der ungeheuren Spannung jener Tage war es nicht ganz leicht, auf einmal nicht im Mittelpunkt aller Geschehnisse zu stehen, sondern abzuwarten, was die Heeresberichte, die Presse oder irgendein Extrablatt brachten.
Es war nahe liegend für Ludendorff, in jener spannungsreichen Zeit in Berlin zu bleiben und nicht irgendwo aufs Land nach Bayern zu gehen. Über seinen Wohnsitz in der Keithstraße ist schon ein Artikel hier auf dem Blog erschienen (4). Über die Folgezeit schreibt Ludendorff (1, S. 27):
Es ist nicht die Absicht, die traurige und ernste Geschichte der Deutschen Revolution zu schreiben. Ich will sie nur so weit mitteilen, als sie mir in der stillen Pension in der Keithstraße in Berlin entgegentrat.
Er erwähnt an keiner Stelle seiner Lebenserinnerungen, dass er in jener Zeit etwa nicht in Berlin gewesen wäre. Und er erwähnt schon gar nicht Bayern. Und bekanntlich ist er dann am 15. November zum Niederschreiben seiner Kriegserinnerungen von Berlin nach Schweden abgereist. Somit wird die bislang gegebene Datierung des Gästebucheintrages auf Schloss Neubeuern auf den 8. November 1918 falsch sein.
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  1. Ludendorff, Erich: Vom Feldherrn zum Weltrevolutionär und Wegbereiter Deutscher Volksschöpfung. Meine Lebenserinnerungen von 1919 bis 1925. Ludendorffs Verlag, München 1940, 1941
  2. Kaesinger, Reinhard: Gästebucheintrag von Erich Ludendorff auf Schloss Neubeuern. http://www.gaestebuecher-schloss-neubeuern.de/biografien/Ludendorff_Erich_General_Politiker.pdf [3.1.2016]
  3. Julie Freifrau von Wendelstadt geb. Gräfin Degenfeld-Schonburg, gen. Sisi. Auf: http://www.gaestebuecher-schloss-neubeuern.de/biografien/Wendelstadt_Baronin_Julie_von.pdf [3.1.2016]
  4. Bading, Ingo: Die "Kurfürstenstraße 112, Ecke Keithstraße" im Leben Erich Ludendorffs. Ein Wohnort Erich Ludendorffs in Berlin zwischen 1914 und 1918. Auf: Studiengruppe Naturalismus, 7. März 2013, http://studiengruppe.blogspot.de/2013/03/die-kurfurstenstrae-112-ecke-keithstrae.html

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